Schaffung eines neuen Lumpenproletariats

Sklavensprache

Im Moment ist das Vokabelkastrat ‹Prekarisierung› besonders modern.

Da viele militant fanatische Nichtraucher die Raucher gerne als ein Pack des Prekariats betiteln, welche sich ‹erfrechen›, ihre eigene Meinung über das Raucherdiskrimisierungsgesetz kundzutun, gehe ich heute mal näher auf diesen Begriff ein.

Der Begriff des Lumpenproletariats hatte lange Zeit nur historische Relevanz. Mit Lumpenproletariat war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine bewußt abwertende Bezeichnung für jene sozialen Opfer gewählt worden, die beim Ausbruch des Kapitalismus an den Rand der Gesellschaft geschleudert worden waren, sich dort ein Leben jenseits der herrschenden Normen einzurichten gesucht hatten und für das ’normale Leben› als verloren galten.

Eugen Sue hat mit seinem verstörenden aber aufhorchenden Bestseller »Die Geheimnisse von Paris« 1843 ihnen ein bis heute gültiges literarisches Dokument gesetzt. Eine zweite Welle der Lumpenproletarisierung zeugte der Erste Weltkrieg unter den überlebenden Frontsoldaten, die nur das Töten gelernt hatten: eine Opfergruppe, die während der Inflation 1923 und in der Weltwirtschaftskrise ab 1929 völlig abstürzte und zumeist bis heute absichtlich von allen Lagern übersehen wird.

Erst recht gilt die Anwendung des Begriffs Lumpenproletariat auf heutige Zustände als unfein. In den vergangenen Jahren ist mit der Forderung nach »political correctness« eine neue Herrschaftstechnik etabliert worden, durch welche jedem Stigmatisierung droht, der Mißstände nicht mit Euphemismen oder wenigstens pseudowissenschaftlichem Verschleierungsvokabular im herrschafts-stabilisierenden Nebel beläßt, sondern wagt, die Dinge beim Namen zu nennen.

Dieser Vorgang ist nicht neu. Auch die Restauration nach der Niederwerfung Napoleons, das deutsche Kaiserreich, der Nationalsozialismus und der reale Sozialismus kannten ihre Spielarten von Sklavensprache. Um Begriffe wie Lumpenproletarisierung bzw. Lumpenproletariat zu vermeiden, wird heute selbst vor absurdesten Verballhornungen nicht zurückgeschreckt. Im Moment ist das Vokabelkastrat Prekarisierung besonders en vogue. Nur die Betroffenen verstehen es nicht und verweigern sich seiner Verwendung; womit es seine Aufgabe erfüllt hat.

Das ‹moderne› Lumpenproletariat wirft bisher eher seine Schatten projizierend voraus, als daß es schon tatsächlich existiert. Trotzdem ist es längst zu einem gesellschaftlich relevanten Faktor geworden. Keine Diktatur kann so effizient, flächen- und jede Tages- und Nachtzeit deckend eine Gesellschaft mit dem Lähmungsgift Angst kontaminieren wie das Wissen um eine »Unterwelt« des Lumpenproletariats – eine »Unterwelt«, vor der nichts verläßlich schützt, nicht einmal die Abstinenz von Unbotmäßigkeit, und die trotzdem stets als erstes erzeugt wird. Die christliche Hölle wird säkularisiert; jeder Unternehmer darf sich im Nebenamt als Ablasshändler gerieren: Tausche Wohlverhalten und Diskriminierungsakzeptanz gegen vorläufige Weiterbeschäftigung.

Angst jedoch zerstört jede Zivilcourage, jedes klare Denken und verwandelt die Gesellschaft in ein Ghetto bindungs- und damit hilfloser, das heißt zu jeder Form von Widerstand unfähiger Individuen. Die deutschen Eliten haben den Schierlingsbecher randvoll mit Angst gefüllt und der Gesellschaft gereicht; ob er auch der Demokratie angeboten oder sein Inhalt weiterhin bloß als Kontaktgift verabreicht wird, ist noch nicht entschieden. Auf jeden Fall ist die Demokratie stark gefährdet. Dies erklärt, weshalb der Deutsche Michel sich vorläufig noch alles vom Staat gefallen lässt.

Ändert sich an all diesen Tendenzen zum Rand der Gesellschaft hin auf absehbare Zeit nichts Grundlegendes, wird dort ein Haß auf die heutigen Zustände und auf die sie verwaltenden Institutionen heranwachsen, für den eines Tages die gesamte Gesellschaft bitter zu bezahlen haben könnte. Freilich ist davon bisher wenig zu spüren; die ins soziale Aus Gedrängten verhalten sich harmlos. Schlimmstenfalls verweigern sie ihre Teilnahme an Wahlen – was den in den Parlamenten vertretenen Parteien nicht ernsthaft wehtut.

Gefährlich wird es erst, wenn sich jemand anbietet, der bereit ist, diesen Haß in die Politik zu tragen.

Jörn Schütrumpf

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Nachwort

Bei den Reichstagswahlen 1930 meldeten sich das Lumpenproletariat und mehr noch diejenigen, die sich und ihre Nachkommen von einem Absturz in diese »Unterwelt« bedroht fühlten, massiv in der Gesellschaft zurück: politisch, mit der NSDAP. Die konnte ihre Mandate gegenüber den Wahlen von 1928 auf 107 verneunfachen. Mit ihrer Ablehnung des gesamten »Systems« war die NSDAP zum adäquatesten Ausdruck des Hasses der Ausgegrenzten und noch mehr der von Ausgrenzung Bedrohten geworden. Die Massenbasis von Faschismus und Nationalsozialismus ist, bevor das Verbrechen an die Macht gelangt, weder besonders faschistisch noch nationalsozialistisch, sondern zuallererst verzweifelt. Verbrecher werden nicht geboren, sie werden gemacht.

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Hitler und seine zerstörerische Energie sind noch lange nicht absorbiert worden und befinden sich noch immer in der Gegenwart.

Carolus Magnus

Freidenker, Rebell und Nonkonformist schreibt provokativ, konzis, unkonventionell und unmißverständlich über/gegen das grassierende, genußfeindliche, puritanische Weltbild in unserer Gesellschaft. Stilmittel: Satire, Provokation, Humor, Karikatur und knallharte Facts. Ein MultiMediaMagazin für Jeden.

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2 thoughts on “Schaffung eines neuen Lumpenproletariats

  1. Der Unterschied ist: Die Zigarette als glimmenden Ausweis des Verlierers und als Zeichen der Zugehörigkeit zur Unterschicht hängt sich der Betroffene völlig freiwillig um. Niemand zwingt ihn. Außer seiner Sucht – aber die hat er sich auch selber zuzuschreiben. Raucher stinken!

  2. «Bei den Reichstagswahlen 1930 meldeten sich das Lumpenproletariat und mehr noch diejenigen, die sich und ihre Nachkommen von einem Absturz in diese »Unterwelt« bedroht fühlten, massiv in der Gesellschaft zurück: politisch, mit der NSDAP. Die konnte ihre Mandate gegenüber den Wahlen von 1928 auf 107 verneunfachen. Mit ihrer Ablehnung des gesamten »Systems« war die NSDAP zum adäquatesten Ausdruck des Hasses der Ausgegrenzten und noch mehr der von Ausgrenzung Bedrohten geworden. Die Massenbasis von Faschismus und Nationalsozialismus ist, bevor das Verbrechen an die Macht gelangt, weder besonders faschistisch noch nationalsozialistisch, sondern zuallererst verzweifelt. Verbrecher werden nicht geboren, sie werden gemacht.»

    Eine kleine Paralele:
    Die SVP scheint in diese Rolle zu wachsen (nicht NSDAP, sondern als Auffangbecken für die Enttäuschen)

    @Nichtraucher
    Ich verstehe nicht ganz (ok, ich bin Raucher und deshalb blöd)
    Raucher gehören zur Unterschicht?
    Das ist schön für Sie, Sie dürfen sich einbilden, dass Sie als Nichtraucher etwas besseres sind.
    Wenn Ihr Ego das braucht……

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